Gemeinsames Lernen als Unterrichtsprinzip: Die Schüler des Schulzentrums Ybbs gewöhnen sich an selbstständiges Arbeiten.
Bild: (c) Die Presse (Clemens Fabry)
Im Schulzentrum Ybbs entscheiden Schüler über 20 Prozent der Unterrichtszeit selbst. Die Zeit nutzen sie, um zu lernen, Hausübungen zu erledigen und an Projekten zu arbeiten.
01.12.2015 | 18:24 | von Julia Neuhauser (Die Presse)
Ybbs. Es ist Montagvormittag nach der großen Pause im Schulzentrum Ybbs. Die nächste Einheit beginnt. Doch es sieht hier nicht nach klassischem Unterricht aus: Ein paar Jugendliche haben es sich mit ihren Büchern vor dem Klassenraum auf der Couch gemütlich gemacht, manche arbeiten gemeinsam an einem Laptop und die Mehrheit der Schüler sitzt in kleinen Grüppchen zusammen, um einander gegenseitig Vokabel abzufragen oder Mathematikbeispiele zu erklären. So wird hier, an der Handelsakademie (HAK), der Handelsschule (HAS) und der Höheren Technischen Lehranstalt (HTL) in Ybbs, seit Kurzem dreimal pro Woche gelernt. Im sogenannten Indy-Unterricht.
Indy steht für Individualisierung in Ybbs. Die Schüler entscheiden über 20 Prozent der Unterrichtszeit selbst – machen das, was ihnen Spaß macht und arbeiten an dem, was sie nicht so gut können. Unterricht wird in dieser Zeit zur Holschuld. Montags, dienstags und mittwochs in der dritten und vierten Stunde sind es nicht die Lehrer, die zu den Schülern in die Klasse kommen, sondern die Schüler, die ihre Lehrer in den Klassenzimmern aufsuchen. Auf einem detaillierten Plan sehen die Jugendlichen, dass beispielsweise Lehrerin Ulrike Bauer jeden Montag in der dritten Einheit im Raum K02 anzutreffen ist. Sie hilft den Schülern in Mathematik und Naturwissenschaften – egal, in welcher Schulstufe sie sind.
Heute wird Bauers Hilfe von sehr vielen Schülern in Anspruch genommen. Es ist Schularbeitszeit. Nina Punz und Richard Göckler sind zwei davon. Die 19-Jährigen brüten über Differenzialgleichungen. „Von diesen Stunden profitieren die Schwachen und die Guten“, sagt Punz. „Manchmal bemerke ich erst beim Erklären, dass ich es vielleicht doch nicht ganz verstanden habe.“ Ein paar Tische weiter hilft Lehrerin Bauer einer Gruppe von Mädchen. „Diese Art des Unterrichts ist arbeitsintensiver“, sagt Bauer. „Es ist wie intensive Nachhilfe.“
Angst vor „Kuschelpädagogik“
Geboren wurde die Idee für den neuen Unterricht schon vor zwei Jahren. Direktor Rainer Graf wollte seine Schule verbessern und vor allem etwas für die guten Schüler tun. Sie sollten besser lernen, Fragen zu stellen, sich selbst zu motivieren und mehr Selbstverantwortung zu übernehmen. Graf hat vor einigen Jahren schon das Programm Cool (Cooperatives Offenes Lernen) an die Schule gebracht. Seither arbeiten die Schüler an der HAK an einem Tag pro Woche frei an einem Projekt.
Das war für den Direktor aber nicht genug. Wie Ideen wie Individualisierung – das beliebteste Schlagwort in der Bildungsdiskussion – noch besser umgesetzt werden können, wollte sich der Direktor bei der bekannten deutschen Schulleiterin Margret Rasfeld an der Evangelischen Schule Berlin Zentrum holen. Gemeinsam mit 54 seiner 73 Lehrkräfte trat er die Reise nach Berlin an. Um es dann in Ybbs doch etwas anders zu machen, als es dort praktiziert wird. „Wir können uns nicht vorstellen, unsere Schüler zu 100 Prozent frei arbeiten zu lassen“, sagt er. „Wir wollen als Lehrer ja nicht nur Lehrmittelhersteller sein.“
Selbst die 20 Prozent individueller Unterricht waren in Ybbs nicht unumstritten: „Anfangs haben es schon einige als Kuschelpädagogik abgetan und gesagt: ,Warten wir die Schularbeiten ab‘“, erzählt Graf. Auch er gesteht: „Das Loslassen ist wichtig, aber schwierig.“ Natürlich sei es ungewohnt, wenn Lehrer sehen, dass Schüler die Zeit dazu nutzen, Hausübung zu machen. Andererseits würden die Aufgaben dann zumindest selbst gemacht. „Sonst erledigt einer die Hausübung, fotografiert sie und schickt sie dann per WhatsApp dem Rest der Klasse.“
Im individualisierten Unterricht wird aber nicht nur für Schularbeiten gelernt und Hausübung gemacht, sondern auch an Projekten gearbeitet. So bastelt eine Gruppe von HTL-Schülern an einem Gerät, das die Luft in den Klassenzimmern misst und zu piepsen beginnt, sobald gelüftet werden muss. Eine Gruppe von HAK-Schülern gestaltet wiederum die Maturaballplakate.
Organisatorisch war die Einführung dieses Indy-Unterrichts gar nicht so einfach. Dafür musste ein Schulversuch beantragt und die gesamte Stundentafel auf den Kopf gestellt werden. Die Unterrichtseinheiten in Ybbs dauern nun statt 50 nur noch 40 Minuten. Die Lehrer haben so weniger Unterricht und mehr Zeit, mit den Schülern in den Indy-Stunden zu lernen.
Ganz ohne Kontrolle geht es trotz des Vertrauens in den Lernwillen der Jugendlichen dann aber doch nicht: Die Schüler müssen ein elektronisches Logbuch führen und die Lehrer die Anwesenheit mit ihrer Unterschrift bestätigen.
(„Die Presse“, Print-Ausgabe, 02.12.2015)